Die Mensch-Maschine, die Intelligenz und die Ähnlichkeit
Michael Seibel • Intelligenz? Was bitte? (Last Update: 01.06.2021)
„Nihil est in intellectu, quod non antea fuerit in sensu, nisi intellectus ipse.“1
„With four parameters I can fit an elephant, and with five I can make him wiggle his trunk.“2
Es ist reizvoll, einen Bogen zu schlagen, den man größer kaum schlagen kann. Dafür braucht es eine Menge Schwung. Den Bogen der Philosophie eben, der fast so groß ist wie das Leben selbst. Nicht, um ihn zu füllen, sondern um auf die Lücken darin zu schauen, die das Wissen nicht oder noch nicht schließen kann.
Um den Lebensbogen selbst kann es sich natürlich nicht handeln. Den kann man nur schlagen, indem man das Leben lebt. Es kann sich eben nur um ein Modell handeln, ein rechtes oder schlechtes. Maß für die Güte eines Modells ist hier wie überall die Frage, um derentwillen man das jeweilige Modell entwirft. Allein gemessen an der Frage wird es recht oder schlecht.
Mein Bogen beginnt bei der Frage, die die Philosophie immer wieder umtreibt und heute in neuer Form dazu dient, den Begriff der künstlichen Intelligenz (KI) plausibel zu machen: was ist eigentlich Ähnlichkeit. Wie kommen wir dazu, zu finden, dass etwas etwas anderem ähnlich ist? Unser genuines Erkennen von Ähnlichkeit, das ist der Punkt, an dem wir den Ball aufnehmen, den uns die Welt zuwirft. Heute ist das die Frage nach Mustern und danach, wie man sie erkennt. Man verfängt sich dabei schnell in einem Netz, in dem Ähnlichkeit, Identität und Differenz untrennbar ineinandergreifen. Und es ist zweifellos dieses Netz, das früher oder später, wenn man seiner Evolution nur genug Zeit gibt, zum Netz all der Sinnzusammenhänge wird, in denen wir alle leben, mit all ihren Möglichkeiten, Zwängen und Unabweisbarkeiten. Von den vermutlich recht unterschiedlichen Antwortmöglichkeiten auf die Frage danach, was wem ähnlich ist, hängt so ziemlich jede Ordnung ab, die jemals irgendwo errichtet wird.
Und gerade weil es sich dabei um den Bogen handelt, den das Denken ein Leben lang schlägt, von etwas noch Unbekanntem, das zufällig und zunächst nur vage etwas Bekanntem ähnlich sieht, hin zu einer sich verdichtenden und immer deutlicheren Notwendigkeit der Vereinigung hinter Gebirgen aus Redundanzen über diverse Zeichen von Ideen, Rechten und Völkern, die den Verständigen auffordern, auf immer deutlicher vorgebahnten Wegen mit allem Neuen umzugehen, und weil mit das Beständigste an dieser Denkbewegung die Insistenz auf Bedeutungen, die sich einmal ergeben haben und auf die Unverrückbarkeit von bis in den Tod bewachten Grenzen ist, einer Wache, die zu wenig anderem gut ist, als dazu, den Zufall wieder loszuwerden, landet man, wenn man die Frage stellt, was Ähnlichkeiten eigentlich sind, sie mögen an Erinnerungen anknüpfen oder an Ahnungen, gedanklich am Ende bei Hamlet, beim Gegensatz schlechthin, bei sein oder nicht sein und – sofern man den Zwang des Gegensatzes nicht doch durchkreuzt und den Zufall wieder zulässt – beim Rest, der Schweigen ist.3
Das also ist der ganze Bogen.
Einer der Hauptakteure, der die Knoten dieses Netzes knüpft, ist der Zufall. Der andere Protagonist ist das Denken, das den Zufall fixiert, um ihn, ambivalent, wie es dem Zufall gegenüber ist, zugleich loszuwerden und auf keinen Fall zu verlieren. Denn im Zufall steckt so ziemlich alles, was Wert hat, all das Gold des Midas zu dem Zeitpunkt, als es noch essbar war. Ein wenig wirkt die Arbeit dessen, was heute unter dem Titel Künstliche Intelligenz firmiert, wie ein Versuch, den Zufall gleichsam zu berühren, ohne ihn dabei zu Unsinn zu verklumpen und es damit unserem Denken gleichzutun, dem es alltäglich allein in seiner ständigen Bewegung durch selbsterzeugte Welten aus Metaphern gelingt, lebendig zu bleiben.
An sich sind wohl die meisten KI-Forscher nüchterne Leute, und doch gibt es einen breiten Rand, an dem darüber nachgedacht wird, wie sich etwa menschliche Gehirne durch Computer emulieren ließen. Die Mehrheit würde es zurückweisen, derart inspiriert zu sein, und würde ihre Aufgabe einfach nur als Automatisierung von Entscheidungsprozessen beschreiben, die bislang Menschen vorbehalten waren. Einige durchaus einflussreiche Leute gehen da weiter, wie der us-amerikanische Futurist, Erfinder und Entwickler im Google-Umfeld Ray Kurzweil mit einem Titel wie How to create a Mind.4 Er bekommt das hin, ohne deshalb rot zu werden und gänzlich über die paranoide Kante zu kippen, an der ein Nick Bostrom seine auflagenstarken Technoreißer über Superintelligenzen verkauft.
Aber warum sollte unser Bogen ausgerechnet bei der Ähnlichkeit anfangen und nicht irgendwo anders? Die Antwort, die heutige Informatiker der KI nahelegen, ist die: Weil man für alles andere 'intelligenter' sein muss. (Intelligenz sozusagen US-empiristisch verstanden in der Bedeutung, die man dem Begriff gegenwärtig im Silicon Valley gibt.) Mustererkennung wird als Elementarprozess schlechthin für kognitive Leistungen betrachtet.5
Intelligenz? Was bitte?
„Es ist eine armselige Ideologie, daß zur Verwaltung eines Trusts unter den gegenwärtigen Bedingungen irgend mehr Intelligenz, Erfahrung, selbst Vorbildung gehört als dazu, einen Manometer abzulesen.“
(Adorno, Minima Moralia)
Man ist sich allgemein einig, dass die Lösung bestimmter Aufgaben Intelligenz erfordert, wie z.B. das Berechnen der Division größerer teilerfremder natürlicher Zahlen. Das wäre so etwas wie Aufgabenintelligenz. Ein Taschenrechner dient dazu, so etwas zu berechnen, aber deshalb ist der Taschenrechner noch kein intelligentes Ding. Aufgaben-Intelligenz beweist keine Ding-Intelligenz.
Wo gesagt wird, dass ein Gerät künstliche Intelligenz hat, ist allerdings sehr wohl gemeint, dass das Gerät selbst intelligent ist. Eben darum wird gestritten: ist künstliche Intelligenz in diesem Sinn möglich?
Man müsste aber auch hier noch einmal zwischen zwei Arten von Intelligenz unterscheiden. Ein Gerät könnte auf eine Weise intelligent sein, die keinerlei Aufschluss über menschliche Intelligenz gibt – reguläre KI – , oder es kann über eine Intelligenz verfügen, von der man sich sehr wohl Aufschluss darüber erwartet, was menschliche Intelligenz ist – humanoide KI – . Diese Unterscheidung von regulärer und humanoider-KI würde sich nicht mit Searles Unterscheidung von schwacher und starker KI decken, denn beides wären Formen von starker KI. Wir Menschen sind seit etlichen Jahrtausenden ausgesprochen stolz auf unsere geistigen Fähigkeiten und durchaus nicht bereit uns vorzustellen, dass es dazu grundsätzliche Alternativen geben könnte, womit nicht behauptet sein soll, dass es sie gibt.
Es könnte sich irgendwann durchaus herausstellen, dass es keinen wirklichen Unterschied zwischen regulärer und humanoider-KI gibt. Dann nämlich, wenn sich zeigen ließe, dass die einzige Möglichkeit, technisch Aufgaben zu lösen, für die Intelligenz erforderlich ist, darin besteht, sie auf eine Weise bereitzustellen, die Aufschluss darüber gibt, wie Menschen die gleiche Aufgabe bewältigen. Aber weil diese These nicht apriori wahr ist, ist die Unterscheidung von regulärer und humanoider KI nötig.
Machen wir hier einen Einschub, um anzugeben, was wir selbst zumindest für die Länge dieses Essays unter menschlicher Intelligenz und was unter maschineller, künstlicher Intelligenz verstehen wollen, denn der Begriff wird kontrovers diskutiert. Wir möchten den Rahmen auch hier so weit wie möglich spannen. Wir sagen einfach: Immer dann, wenn ein Mensch eine Leistung erbringt, bei der ein beliebiger Beobachter, er mag Fachmann sein oder nicht, zugesteht, dass sie Intelligenz erfordert, sie mag noch so schlicht oder im Gegenteil noch so komplex sein, sind wir gern bereit, dem Beobachterurteil zuzustimmen. Unsere Frage ist dann aber nicht die, was daran intelligent ist. Wir wollen die Leistung vielmehr dadurch kennenlernen, dass wir fragen, ob und wie eine Maschine die gleiche Aufgabe erledigen kann. Bei vielen Aufgaben haben wir heute noch keine Antwort, bei anderen schon. Nach Leistungen zu fragen, liegt nahe. Gründe, warum und in welchem Maß Menschen überhaupt Intelligenz zugesprochen wird, sind ja gerade Leistungen, die sie erbringen können, z.B. Leistungen im Rahmen psychologischer Tests.
Intelligenztests arbeiten regelmäßig mit Aufgaben auf Papier, zum Ankreuzen, zum Ausfüllen. Oft sind logische Schlüsse zu ziehen oder Fehler zu finden. Vieles davon würde geeigneten KI-Programmen ausgesprochen leicht fallen, könnten sie nur den Stift halten, um die entsprechenden Kreuze aufs Papier zu bringen. Das soll kein Witz sein. Ich will nur den Sinn für das schärfen, was an Leistung alles schon vorausgesetzt wird, ohne es explizit zu machen, wo menschliche Intelligenz getestet wird. Und in der Tat wäre es für einen Roboter weit schwerer, den Griffel zu halten und lesbar zu schreiben, als die oft lächerlich einfachen Logikaufgaben zu lösen, die sich in Intelligenztests auch finden. Manchmal sollen Wege in ein Labyrinth eingezeichnet werden wie beim Test nach Porteus. Menschen werden Aufgaben gestellt, die man ganz ähnlich auch Laborratten stellen könnte. Hinter den unterschiedlichen Tests tobt ein Kampf ebenso unterschiedlicher Intelligenztheorien. Aber immer wird die zu untersuchende Fähigkeit, die Intelligenz, in eine Anzahl kleiner Aufgaben zerlegt, die mit einem messbaren Ergebnis gelöst werden sollen.
Als Geisteswissenschaftler fallen uns natürlich sofort Leistungen ein, die sich keineswegs in solche Leistungsminiaturen zerlegen lassen. Das ist eine der Grenzen, die wir zwischen Intelligenz und Geist, intelligence und spirit oder mind ziehen würden. Es ist unmöglich, Aufgaben aus Intelligenztests geistreich zu beantworten. Man würde sofort über den normierten Rand der jeweiligen Erwartungen hinausschießen. Es sind ganz andere Fragen und ganz andere Aufgaben, deren Lösung Geist verlangt. Wenn wir fragen, ob und wie Maschinen intelligent sein können, fragen wir nicht, ob sie geistreich sein können. Wir verzichten nicht deshalb darauf, weil Maschinen unmöglich geistreich sein könnten, sondern weil nur sie selbst beurteilen könnten, ob sie es wären, wenn sie es denn wären. Oder – und das wäre die Alternative – die Grenze zwischen Mensch und Maschine müsste geschliffen werden. Warum sollten wir das ohne Not tun? Wir haben eine mehr als 2000-jährige Geschichte, in der wir uns aus vielen guten Gründen standhaft dagegen verweigert haben, und wir haben einen wachsenden Bestand an Science-Fiction, an praktischer Abhängigkeit von Maschinen an ganz offensichtlichen Praktiken der Selbstmaschinisierung des Kulturwesens Mensch, und neuerdings von jubelnder Begeisterung für Maschinenleistungen aus dem Silicon Valley, die in genau die andere Richtung weisen.
Was die kontinentale Welt Geist nennt, ist das Feld, auf dem sich Fragen und Aufgabenstellungen entwickeln, bevor sie noch in irgendeiner Jobbeschreibung oder als Häppchen in einem Intelligenztest stehen. Wir schauen also bei der Frage nach Intelligenz, menschlicher oder künstlicher, zunächst nur auf die Häppchen.
Mit dem vorgeschlagenen Vorgehen dürfen wir in der Tat hoffen, dass wir früher oder später den Gesamtrahmen all der unterschiedlichen Bestimmungen durchgegangen sein werden, die die unterschiedlichen existierenden Intelligenztheorien dem Begriff geben und dass wir dadurch in gewisser Weise deren Streit untereinander erledigen können. Wir wüssten dann übrigens nicht, warum wir Intelligenz nur Menschen zusprechen sollten, die die entsprechenden Leistungen erbringen und nicht im gleichen Maß auch den Maschinen, die sie erbringen. Wir halten uns also in gewisser Weise aus dem Streit heraus, was alles zur menschlichen Intelligenz, am Ende gar zu so etwas wie menschlichem Geist. Wir lassen sozusagen einfach die Leute reden, die solche Urteile formulieren.
Was uns bei weitem mehr beeindruckt, das ist, wie relativ leicht heute die jeweiligen Grenzen fallen, die jemand meint, dauerhaft zwischen menschlicher und maschineller Intelligenz ziehen zu können.
Des weiteren fällt auch, in welch hohem Maß wir uns allgemein derart an bestimmte menschliche Tätigkeiten gewöhnt haben, dass wir schon gar nicht mehr bereit sind, zuzugeben, dass Intelligenz dazu erforderlich ist. Leistet z.B. jemand, der hinter einer Supermarktkasse sitzt, eine intelligente Arbeit? So mancher wird das verneinen. Aber auch die Umwelt des Kassierers ändert sich sekündlich und erfordert ständig variabel angepasstes Verhalten.
Oder nehmen wir ein Neugeborenes, das seine Mutter erkennt. Sollen Maschinen Personen erkennen, entdeckt man plötzlich, wie ausgesprochen intelligent solch eine Leistung ist, die dem Kind angeboren ist. Einerseits wird die Latte viel zu hoch gelegt, wo Intelligenz anfängt und auf der anderen Seite ist die Grenze viel zu willkürlich, bis wohin Maschinenintelligenz reichen könnte.
Noch zwei Vorbemerkungen: Wenn z.B. ein Bilanzfachmann einen Computer nutzt, um seine Arbeit zu erledigen, wird das niemand zum Anlass nehmen, um zu bezweifeln, dass menschliche Intelligenz am Werk ist. Liefert andererseits ein IT-Programm korrekte Ergebnisse nur dadurch, das Menschen beteiligt sind, ist man sehr viel schneller geneigt, dem IT-System eigene Intelligenz abzusprechen. Beides passt nicht zusammen.
Und hier die letzte Vorbemerkungen: Sie betrifft die Autorenschaft. Ohne Gutenbergs Buchdruck ist die Moderne nicht denkbar. Aber niemand kommt deshalb darauf, das Gutenberg der Erfinder der Moderne ist. Selbstverständlich waren Millionen von Menschen die Autoren der Moderne und selbstverständlich hat Gutenberg nicht Goethes Dichtungen verfasst.
Andererseits trifft man aber ständig auf die Meinung, dass die Entwickler neuronaler Netzwerke die Autoren nicht nur von deren Struktur, sondern auch von deren Ergebnissen seien, die Autoren dessen, was nach der sagen wir 100.000sten Epoche an Erkennungsleistung dabei herauskommt. Das ist schlicht falsch. Sie haben damit ungefähr so viel zu tun wie Gutenberg mit dem 2ten Weltkrieg. Das zu denken ist uns allerdings ungewohnt. Einem Gutenberg wären die Iterationen von seiner Erfindung zum 2ten Weltkrieg letztlich ebenso fremd wie einem Entwickler die Iterationen den KI-Systems zu dessen Wunschergebnis, das wir und er selbst sich allerdings mit Freude zurechnet, wenn es denn eintritt.
Um davon einen Eindruck zu verschaffen, der uns entgegen unserer gewohnten Konzepte von Autorenschaft überzeugen kann, werden wir uns in folgendem vergleichsweise tief auf eine Reihe elementarer Konzepte der KI einlassen müssen. Es ist also eine gewisse Arbeit angesagt.
Anmerkungen:
1 Gottfried Wilhelm Leibniz, Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand
2 John von Neumann zugeschrieben von Enrico Fermi, wie berichtet von Freeman Dyson in "A meeting with Enrico Fermi" in Nature 427 (22 January 2004) p. 297
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